Quest for Women* ist ein Stadtspiel, das im Freien stattfindet und bei dem die Teilnehmer:innen die Stadt erkunden, um verschiedene Herausforderungen und Aufgaben zu lösen, die sich um inspirierende Frauen* von Kreuzberg drehen.
Die Geschichte besteht aus Kriegen und Konflikten, aus den Biografien von Menschen. Frauen* werden vergessen und übergangen. Gedenktafel in Kreuzberg sind fast nur Männern gewidmet. Es gibt einen Mangel an Frauen* im städtischen Raum. Sie haben nicht so viele Denkmäler wie Männer, sie haben nicht so viele Straßen- oder Platznamen. Durch aktives Lernen über das Viertel und die Frauen*, die hier gelebt und gearbeitet haben, wird das Bewusstsein und das Wissen über die fehlende Hälfte der Geschichte – die Frauen*, die oft aus den Annalen gelöscht werden – erhöht. Das Lernen über die lokale Geschichte hilft Vergessenheit zu überwinden, und trägt dazu bei, lokale Gemeinschaften und Zugehörigkeit aufzubauen. Dies wiederum führt dazu, dass sich die Gemeinschaft besser kennenlernt und weniger Feindseligkeit und Angst vor „Fremden“ herrscht.
Für die Suche haben wir 12 außergewöhnliche Frauen* ausgewählt, die in Kreuzberg gelebt oder gearbeitet haben, wo ihre Spuren zu finden sind. Zwei von ihnen leben und sind im kulturellen Bereich in Kreuzberg tätig.
Jede Teilnehmer:in erhält eine Karte der Bezirk Kreuzberg, auf der 12 verschiedene Questpunkte über 12 Frauen* markiert sind. Jeder Punkt ist ein Rätsel: ein Buchstabe, der an einem bestimmten Ort gefunden und in das entsprechende Kästchen neben der Biografie der Frau* geschrieben werden muss. Die nummerierten Buchstaben geben das Wort an – die Lösung des Quests.
Spielpremiere: 16. September 2023 | 12.00 – 16.00 Uhr
SPIELBROSCHURE – mit Rätzeln, Biografien und Karte – zum selberspielen!
Lade die Datei runter, lerne über Kreuzberger Frauen*, suche nach Buchstaben und finde die Lösung!
Das vorgeschlagene Stadtspiel am 16. September 2023, war eine einmalige Veranstaltung, das Spiel kann aber von Teilnehmer:innen danach alleine gespielt werden.
Biografien von Ewa Maria Slaska erfasst. Grafik von Anna Krenz.
Die 12 außergewöhnliche Frauen*:
01. Ursula Goetze (1916 – 1943), Widerstandskämpferin
02. Christine Ziegler (geb. 1959), Kulturmanagerin, soziale Aktivistin
03. Marie Luise Bergmann (1774-1854), Gutsbesitzerin
04. May Ayim (1960–1996), POC, Aktivistin, Dichterin
05. Regina Jonas (1902-1944), 1. Rabbinerin der Welt, Jüdin
06. Lina Morgenstern (1830-1909), Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Jüdin
07. Ida Wolff (1893-1966), Politikerin SPD
08. Henriette Julie Herz (1764-1847), Salonnière, Autorin, Jüdin
09. Lotte Hahm (1890-1967), LGBT Aktivistin, Performerin, Autorin
10. Marie Juchacz (1879-1956), Sozialaktivistin, Politikerin
11. Teresa Nawrot (geb. 1948), Polnische Schauspielerin, Regisseurin
12. Charlotte Oppermann (1904-1984), eine Kreuzbergerin
01. Ursula Goetze (1916 – 1943), Widerstandskämpferin
Ursula Goetze war eine Widerstandskämpferin, Kommunistin, verbunden mit der Gruppe Rote Kapelle. Sie wurde von der Nazis im Gefängnis Plötzensee enthauptet, wie viele andere Menschen und darunter auch viele Polinnen und Polen, wie z.B: Irena Bobowska (1920-1942), eine polnische Dichterin und Zeichnerin, Gründerin einer Untergrundzeitschrift in Posen.
In Kreuzberg befinden sich insgesamt 12 Straßen, die nach Frauen bzw. Queer-Personen (davon eigentlich nur eine Person: Rio Raiser) genannt sind. Nach Ursula Goetze ist ja auch eine Straße in Berlin genannt, allerdings in Karlshorst.
Ursula Goetze wurde am 29. März 1916 in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Ihre Großeltern betrieben in Berlin ein Hotel. Sie besuchte das Lyzeum und die Städtische Höhere Handelsschule in Neukölln. Im Anschluss war sie als Stenotypistin bei einer Versicherungsfirma und beim Forschungsdienst der Reichsarbeitsgemeinschaften der Landbauwissenschaft beschäftigt.
Schon vor 1933, noch als Schülerin kam sie zum Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und wurde Mitglied der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH). Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde sie kurzzeitig inhaftiert. Ursula Goetze hatte Kontakt zu Neuköllner Kommunisten um Gertrud Rosemeyer, unterstützte Hilfsaktionen für Juden und politisch Verfolgte und half beim Einschleusen illegaler Druckschriften aus Tschechien. In der Abendschule machte sie die Bekanntschaft von Eva Rittmeister, Liane Berkowitz, Fritz und Hannelore Thiel, Friedrich Rehmer und Hans Coppi.
Zusammen diskutierten sie unter der Leitung von Dr. John Rittmeister politische und
philosophische Fragen. Im April 1940 begann Ursula Goetze an der Berliner Universität ein Philologiestudium, freundete sich mit Werner Kraus an und stellte die große elterliche Wohnung für illegale Treffen zur Verfügung, an denen auch französische Zwangsarbeiter teilnahmen. Diese Aktivitäten blieben zuerst der Gestapo verborgen. Erst als sie sich im Mai 1942 gemeinsam mit Werner Kraus an der Zettelklebeaktion gegen die antisowjetische Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ beteiligte sowie illegale Druckschriften verteilte, wurde die Gestapo im Zusammenhang mit dem Fahndungsvorgang Rote Kapelle auf sie aufmerksam.
Ursula Goetze wurde am 15. Oktober 1942 verhaftet, am 18. Januar 1943 vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und am 5. August 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Am selben Tag starben in Plötzensee auch Hilde Coppi, Liane Berkowitz, Cato Bontjes van Beek, Eva-Maria Buch und Maria Terwiel eines gewaltsamen Todes. Auch sie werden zum Kreis um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen gezählt.
Eine Tafel in der Hornstraße 3 von Christa Ludwig wurde 1987 an die Wand angebracht. Ursulas Name ist auch auf dem Gedenkstein (Künstlerin Johanna Jura, 1976) auf dem Gelände der Humboldt-Universität (Unter den Linden 6) unter anderen Namen der ermordeten Universitätsangehörigen verewigt ist.
02. Christine Ziegler (geb. 1959), Kulturmanagerin, soziale Aktivistin
Im Frauenmonat März 1981, also vor über 40 Jahren, beteiligte sich Christine Ziegler an der Besetzung der Regenbogenfabrik. Obwohl es sich nicht ausschließlich um eine Nur-Frauen-Aktion handelte, fand sie dennoch mit einer Überzahl von Frauen statt. Seitdem ist Christine Ziegler der Idee der Gemeinschaft und Solidarität treu geblieben, auch wenn sie nicht die ganzen 40 Jahre in der Fabrik wohnte und sich ab und zu eine Auszeit gönnte. In einem Leben außerhalb von der Regenbogenfabrik war sie auch mal Orthopädie-Mechanikerin und Studentin an der Freie Universität. So kann sie sich Politologin nennen. In der Regenbogenfabrik war sie lange in der baulichen Selbsthilfe engagiert und seit 1996 ist sie in Verwaltung und im Kulturmanagement beschäftigt, inzwischen wieder ehrenamtlich. Sie begleitete Regenbogenfabrik von einem Status eines von mehreren Hundert besetzten Häuser in Berlin zu den Status einer sozialen Einrichtung, was wirklich nur wenige der Besatzer:innen erreicht haben.
Sie arbeitet in der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt. In den 90er Jahren brachte sie ein deutsch-polnisches Begegnungsprojekt der Regenbogenfabrik auf den Weg. Sie arbeitete zusammen mit der Städtepartnerschaft Stettin, mit dem WIR e.V. (Verein zur Förderung der Deutsch-Polnischen Literatur) und dem Club der Polnischen Versager. Sie meint, ausdrücklich feministisch ist sie nicht aktiv, doch ist fest davon überzeugt, dass den Frauen die Hälfte des Himmels gehört und dass die Welt der Menschen immer nur unzulänglich organisiert sein kann, wenn die Teilhabe aller nicht gesichert ist. Dass also Basisdemokratie und Selbstorganisierung besser sind als Hierarchie, dass es notwendig ist, Achtsamkeit zu lernen gegenüber Menschen und Pflanzen, und Tieren, da Entwicklung nie aufhört.
Die Regenbogenfabrik ist ein Kinder-, Kultur- und Nachbarschaftszentrum in Berlin-Kreuzberg, ein Teil der Häuser- und Mieter:innenbewegung und setzt für den Aufbau und Erhalt selbstverwalteter, kollektiver und emanzipatorischer Strukturen von unten ein. Als Kollektiv arbeiten die Menschen ohne Chef:innen und treffen Entscheidungen gemeinschaftlich und basisdemokratisch nach dem Konsens-Prinzip. Jede Arbeit in der Fabrik ist gleich viel Wert, daher wird auch jede Arbeit gleich vergütet.
Die Regenbogenfabrik wurde 1998 zum Denkmal erklärt.
03. Marie Luise Bergmann (1774-1854), Gutsbesitzerin
Im Frauenmonat März 1981, also vor über 40 Jahren, beteiligte sich Christine Ziegler an der Besetzung der Regenbogenfabrik. Obwohl es sich nicht ausschließlich um eine Nur-Frauen-Aktion handelte, fand sie dennoch mit einer Überzahl von Frauen statt. Seitdem ist Christine Ziegler der Idee der Gemeinschaft und Solidarität treu geblieben, auch wenn sie nicht die ganzen 40 Jahre in der Fabrik wohnte und sich ab und zu eine Auszeit gönnte. In einem Leben außerhalb von der Regenbogenfabrik war sie auch mal Orthopädie-Mechanikerin und Studentin an der Freie Universität. So kann sie sich Politologin nennen. In der Regenbogenfabrik war sie lange in der baulichen Selbsthilfe engagiert und seit 1996 ist sie in Verwaltung und im Kulturmanagement beschäftigt, inzwischen wieder ehrenamtlich. Sie begleitete Regenbogenfabrik von einem Status eines von mehreren Hundert besetzten Häuser in Berlin zu den Status einer sozialen Einrichtung, was wirklich nur wenige der Besatzer:innen erreicht haben.
Sie arbeitet in der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt. In den 90er Jahren brachte sie ein deutsch-polnisches Begegnungsprojekt der Regenbogenfabrik auf den Weg. Sie arbeitete zusammen mit der Städtepartnerschaft Stettin, mit dem WIR e.V. (Verein zur Förderung der Deutsch-Polnischen Literatur) und dem Club der Polnischen Versager. Sie meint, ausdrücklich feministisch ist sie nicht aktiv, doch ist fest davon überzeugt, dass den Frauen die Hälfte des Himmels gehört und dass die Welt der Menschen immer nur unzulänglich organisiert sein kann, wenn die Teilhabe aller nicht gesichert ist. Dass also Basisdemokratie und Selbstorganisierung besser sind als Hierarchie, dass es notwendig ist, Achtsamkeit zu lernen gegenüber Menschen und Pflanzen, und Tieren, da Entwicklung nie aufhört.
Die Regenbogenfabrik ist ein Kinder-, Kultur- und Nachbarschaftszentrum in Berlin-Kreuzberg, ein Teil der Häuser- und Mieter:innenbewegung und setzt für den Aufbau und Erhalt selbstverwalteter, kollektiver und emanzipatorischer Strukturen von unten ein. Als Kollektiv arbeiten die Menschen ohne Chef:innen und treffen Entscheidungen gemeinschaftlich und basisdemokratisch nach dem Konsens-Prinzip. Jede Arbeit in der Fabrik ist gleich viel Wert, daher wird auch jede Arbeit gleich vergütet.
Die Regenbogenfabrik wurde 1998 zum Denkmal erklärt.
04. May Ayim (1960–1996), POC, Aktivistin, Dichterin
May Ayim war eine Aktivistin der afrodeutschen Bewegung, eine Schriftstellerin und Dichterin. Sie ist jung gestorben, weil sie unheilbar krank war.
Im Rahmen der Kreuzberger Bezirkspolitik, die Straßenumbenennung nach Frauen bevorzugt, wurde ein Teil der Straße der Spree entlang May-Ayim-Ufer genannt. Die Straße verläuft von der Pfuelstraße im Nordwesten bis zur Oberbaumstraße im Südosten. Sie hatte vorher und von Anfang an eine koloniale Geschichte. 1891 angelegt, wurde sie 1895 anlässlich der „Kolonialausstellung“ im nahen Treptower Park, mit einer aufwendig im maritimen Stil gestalteten Anlegestelle versehen und nach Otto Friedrich von der Groeben (1657–1728) benannt. 1683 war er Leiter einer West-Afrika-Expedition im Auftrag des Großen Kurfürsten, der eine brandenburgische Kolonie Groß Friedrichsburg in heutigen Ghana gründen ließ. Es war die erste deutsche Kolonie in Afrika, die eine Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel
ermöglicht habe. Wem? Wohl dem großen Kurfürsten, den man in Berlin hochschätzt, weil er derjenige war, der Berlin groß machte, die Stadt aus der provinziellem Sumpf zum Rang der Residenzstadt erhoben hat und die Schweden aus Pommern (auch Stettin) vertrieb. Über Sklavenhandel schweigt man ausführlich.
Hier verlief während den DDR Zeit die Sektorengrenze und ab 1961 die Berliner Mauer, wobei die Spree gänzlich zu Ost-Berlin gehörte. Diese Situation war Grund für mehrere tragische Unfälle, meistens von Kindern. Wenn ein Kind ins Wasser fiel, trauten sich West-Berliner nicht, es zu retten, während der DDR-Grenztruppen jedes Eingreifen untersagt war.
May wurde in Hamburg geboren, ihr Vater war Ghanaer und ihre Mutter Deutsche. Sie wurde zur Adoption freigegeben und nahm den Nachnamen einer Pflegefamilie an: Opitz. Sie studierte bis 1986 Pädagogik und Psychologie. Ihre Diplomarbeit „Afro-Deutsche: Ihre Kultur- und Sozialgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen“ wurde im Band „Farbe bekennen“ veröffentlicht.
Ab 1984 lebte sie in West-Berlin, wo sie eine Mitbegründerin der Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland war und sich an der internationalen schwarzen Frauenbewegung beteiligte. 1987-1989 ließ sie sich zur Logopädin ausbilden. Ihre Examensarbeit trug den Titel: „Ethnozentrismus und Geschlechterrollenstereotype in der Logopädie“. Sie arbeitete als freiberufliche Logopädin und Lehrbeauftragte an der Berliner Fach- und Hochschulen. Sie galt als eine der Pionierinnen der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland und prangerte rassistische Diskriminierung an, die sie in ihrem Alltag selbst erfuhr.
Die deutsche Wiedervereinigung, die sie als „Sch-Einheit“ bezeichnete, erlebte Opitz als überschattet von zunehmendem Nationalismus und Gewalt gegen Minderheiten. Im Gedicht „deutschland im herbst“ (1992) zog sie eine Verbindung von der Kristallnacht im November 1938 zum tödlichen Überfall auf Amadeu Antonio im November 1990 und schloss mit den Worten „mir graut vor dem winter“. Ab 1992 publizierte sie unter dem Nachnamen ihres Vaters – Ayim.
nachdem sie mich erst anschwärzten
zogen sie mich dann durch den kakao
um mir schließlich weiß machen zu wollen
es sei vollkommen unangebracht
– schwarz zu sehen
Im Mai 1996 wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert. Am 9. August 1996 starb sie durch Suizid. Bestattet wurde sie auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg.
05. Regina Jonas (1902-1944), 1. Rabbinerin der Welt, Jüdin
Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV Friedrichshain-Kreuzberg) hat im Februar 2021 beschlossen, eine Straße in Kreuzberg nach der weltweit ersten Rabbinerin Regina Jonas zu benennen. Mit dieser Geste möchte der Bezirk an sie erinnern, ihren Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit in geistlichen Ämtern würdigen und Sichtbarkeit jüdischer Geschichte im öffentlichen Raum verstärken. Die Benennung einer Strasse nach Regina Jonas, meinte der Initiator der Aktion, John Dahl, sei ein starkes Statement des Bezirks gegen den wieder zunehmenden Antisemitismus in unserem Land. Anfang 2023 wand sich der Bezirk mit einer Postkarten-Aktion an die Anwohner:innen mit der Frage, welche Straße nach Regina Jonas umbenannt werden solle. Im Sommer 2023 als dieses Büchlein entstand, wusste jedoch der Bezirk nicht, wann die Umbenennung tatsächlich stattfinden wird. Es braucht Zeit.
So ist es. Umsetzung eines Beschlusses in eine Tat braucht Zeit und dies, obwohl es in Berlin bereits seit 2005 beschlossenen Willen gibt, Straßen und Plätze solange nach Frauen zu benennen, bis mindestens die Hälfte nach Frauen benannt ist. Dies wurde zwar 2014 an die Gleichbehandlungsrichtlinie der Europäischen Union und an die europäische Rechtsprechung angepasst, die es vorsieht, dass die Straßen und Plätze nicht ausschließlich nur nach Frauen* benannt werden dürfen, nichtdestotrotz dürfen Frauennamen weiterhin vorrangig berücksichtigt werden. Die Entscheidung vom Februar 2023 fiel auf ein Teil der Kohlfurter Straße in Berlin-Kreuzberg, die in Regina-Jonas-Straße umbenannt wird.
Dort, am damaligen Kottbusser Ufer befand sich eine große Synagoge, entworfen vom Architekten Alexander Beer, die jedoch den Krieg nicht überstanden hat. Als die Synagoge 1916 eingeweiht wurde, gehörte sie zu den größten Berlins und bot rund 2.000 Menschen Platz. 1925 eröffnete die Jüdische Gemeinde einen Kindergarten und Hort auf dem Gelände, zweimal wöchentlich gab es zudem das Angebot einer nachmittäglichen Religionsschule. Seitdem in der Pogromnacht 1938 die Hauptsynagoge schwer zerstört wurde, konnte bis 1942 nur noch der Seitenflügel für Gottesdienste genutzt werden. Heutzutage ist es eine konservative Synagoge mit einem traditionellen Ritus. Hier und in Umspannwerk entsteht jetzt ein jüdisches Kulturzentrum, in dem mehrere jüdische Organisationen Platz finden.
Es ist befremdlich, dass man sowohl an der Webseite der jetzigen Synagoge, als auch an der des entstehenden Zentrums kein Wort über Regina Jonas findet. Direkt nach ihrer Ordination 1935 arbeitete sie zwar woanders und zuerst gar nicht als Rabbinerin, sie war in der Seelsorge und im Religionsunterricht tätig, aber ab 1938 war sie gerade hier, in dieser Synagoge als Rabbinerin tätig. Erste Rabbinerin der Welt.
Es herrschten Krieg, Terror und Verfolgung. Die Dauer ihrer Tätigkeit an diesem Ort war also begrenzt. Schon Anfang 1942 musste sie auf ihre Ordination verzichten und Zwangsarbeit leisten. Im November wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort wirkte sie als Seelsorgerin und predigte weiter. Im Oktober 1944 wurde sie ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht und ermordet.
Regina Jonas ist in Berlin schon geehrt. Im Jüdischen Museum ist sie als eine der wichtigen Jüdinnen genannt, ihr wurde auch 2001 eine Gedenktafel in der Krausnickstraße 6 in Berlin-Mitte gewidmet.
06. Lina Morgenstern (1830-1909), Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Jüdin
Im 19. Jahrhundert begannen die Menschen sich sozial zu engagieren und für ihre sozialen Ziele sich in Gesellschaften zu treffen bzw. solche zu gründen, eine Form der Aktivität, die auch für Frauen zugänglich war. Waren die aktiven, intelligenten Frauen des vorigen Jahrhunderts, wenn sie etwas bewirken wollten, Salonnièren, Salon-Damen, wie Rahel Vernhagen oder Henriette Herz, suchten die aktiven Frauen des nächsten Jahrhunderts eine neue Form des Engagements. In Salons trafen sich Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler. Im demokratischen 19. Jahrhundert verlegten die Frauen ihren Tatendrang in Vereine, oft mit sozialen Zwecken.
Lina Bauer war 18, als sie im revolutionärem Jahr 1848 den Verein Pfennigvereins zur Unterstützung armer Schulkinder gründete. 1854 heiratete sie Theodor Morgenstern (1827-1910). 1857 begann sie mit Erfolg Kinderbücher zu schreiben. 1859, als ihre Tochter geboren war, gründeten Lina Morgenstern und Adolf Lette den Berliner Frauen-Verein zur Beförderung der Fröbel’schen Kindergärten. Seit 1851 gab es in Preußen Verbot der Kindergarten, die nach den Idealen von Friedrich Fröbel arbeiteten. Fröbel betonte die Bedeutung der frühen Kindheit, daher war „sein“ Kindergarten eine Bildungseinrichtung und kein Schutz- und Pflegeort wie bis jetzt. Nach dem Beben des Jahres 1848 wurde Preußen sehr konservativ und der sog. Das Kindergärten-Verbot war ein Ausdruck dessen. Fröbel-Anstalten warf man vor, Ideen des Sozialismus zu verbreiten. Der Lette-Verein half das Verbot umzugehen. 1861-1866 war Lina Vereinsvorsitzende; in diesen fünf Jahren wurden acht Kindergärten und eine Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen eröffnet, wo mit dem von Lina verfassten Handbuch gelehrt wurde: „Das Paradies der Kindheit“.
Seit ihrer Kindheit war Lina für die Armut der Menschen empfindlich. Auch ihre nächste gesellschaftliche Idee, die sie 1866 entwickelt hat, die Suppenküchen, widmete sich der Bekämpfung der Armut. Preußen bereitete sich gerade für den Krieg mit Österreich vor.
Lina Morgenstern sah genau, welche soziale Konsequenzen der Krieg der Gesellschaft bringen wird. Sie begann Großküchen einzurichten, die das Essen zum Selbstkostenpreis bereiten sollten. Sie hatte schon 1866 der Verein der Berliner Volksküchen begonnen. Sie hat auch ein Buch über die Volksküchen veröffentlicht, in dem sie preisgünstige und nahrhafte Rezepte aufführte („Illustriertes Universal-Kochbuch“). Für diese Idee fand sie eine wichtige Unterstützerin, nämlich Königin Augusta, Ehefrau Wilhelms I., seit 1861 Königin von Preußen und nach der Reichsgründung 1871 erste deutsche Kaiserin. Lina öffnete ihre Küchen eine nach der anderen in Berlin, wofür ihr der berühmte Berliner Volksmund den Namen Suppenlina gab. 1868 gründete sie eine Akademie zur Fortbildung junger Damen und 1869 einen Kinderschutzverein. Bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 baute Suppenlina Feldpoststelle für kämpfende Soldaten auf und organisierte die Versorgung Verwundeter. 1873 gründete sie den Berliner Hausfrauenverein. Es folgte noch ein zusammen mit Minna Cauer organisierter Internationaler Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin. 1897 war sie auch noch Vorstandsmitglied der Deutschen Friedensgesellschaft.
Eine Straße sowie eine Gemeinschaftsschule sind in Berlin nach Lina Morgenstern benannt und ein Cafe im Jüdischen Museum. Es gibt eine Gedenktafel in Schöneberg, in der Potsdamer Straße 139, eine in der Friedrichstraße 9 und eine an dem Haus, wo sie wohnte in der Linienstraße 47 in Berlin-Mitte. Grabmal der Eheleute Morgenstern befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee.
07. Ida Wolff (1893-1966), Politikerin SPD
Der Ida-Wolff-Platz ist ein ca. 60 x 50 Meter großer Platz im Berliner Bezirk Kreuzberg.
Er liegt zwischen der Stresemannstraße, der Halleschen Straße und der Großbeerenstraße. Der Platz entstand bei der Neugestaltung des Kreuzungsbereichs Ende der 1990er-Jahre. Benannt ist er seit dem 1. Januar 1999 nach der Berliner SPD-Politikerin Ida Wolff.
Ida Wolff, geb. Pohl, war am 28. Oktober 1893 in Brieg (heute Brzeg in Polen), Regierungsbezirk Breslau geboren, sie starb 1966 in Berlin. Sie besuchte die Volksschule und anschließend machte sie eine Ausbildung in der Wirtschaftsschule Peterswaldau. Sie arbeitete als Buchbinderin und später als Verkäuferin. Im Jahr 1918 heiratete sie Carl Wolff. Sie hatten vier Söhne – drei von ihnen fielen im Zweiten Weltkrieg.
Wolff war ab 1912 in der Gewerkschaft tätig und trat 1918 der SPD bei. Sie absolvierte eine Ausbildung bei der Arbeiterwohlfahrt und wurde anschließend Fürsorgerin beim Jugendamt. Bald darauf wurde sie in den Bezirksvorstand Breslau und in den Parteivorstand der SPD in Mittelschlesien gewählt. Außerdem wurde sie zur Stadtverordneten in Brieg gewählt und war Abgeordnete des Provinziallandtags.
Während des Nationalsozialismus wurden sie und ihr Mann in Breslau verhaftet. Nach der Freilassung gelang ihnen die Flucht nach Berlin, wo sie sich in Kreuzberg niederließen. Ida Wolff überlebte den Krieg im Versteck. Nach dem Krieg gehörte sie neben Louise Schroeder und Franz Neumann zu den Neubegründern der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Berlin. Bei den ersten freien Wahlen 1946 zog sie für die SPD in die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein und war später auch Mitglied im Abgeordnetenhaus von Berlin.
1963 wurde ihr der Ehrentitel Stadtälteste von Berlin verliehen. Diese Ehrenbezeichnung geht auf die Stein- und Hardenbergsche Städtereform von 1808 zurück. Sie ist immer an Persönlichkeiten verliehen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben und sich Verdienste in Funktionen erworben haben, die sie mindestens 20 Jahre in kommunalen Wahl- oder Ehrenämtern in Berlin innehatten. Der Titel wurde erstmals 1820 zugesprochen. Im Landesarchiv Berlin wird das Gedenkbuch der Ältesten der Stadt Berlin geführt. Als erste Frau wurde Anna Nemitz erst im Jahr 1953 geehrt.
Nach Ida Wolff ist ein Vivantes Krankenhaus in Berlin-Neukölln benannt, dass auf Altersheilkunde spezialisiert ist und Patientinnen und Patienten ab 70 Jahren betreut.
08. Henriette Julie Herz (1764-1847), Salonnière, Autorin, Jüdin
Henriette Julie Herz war eine Schriftstellerin und erste Berliner Salonnière der Frühromantik. Sie entstammte einer sephardisch-jüdischen Familie, deren Vorfahren väterlicherseits vor der Inquisition aus Portugal geflohen waren. Ihre Eltern waren Benjamin Benveniste de Lemos (1711–1789), ein anerkannter Arzt und Direktor des Jüdischen Krankenhauses in Berlin, und Esther de Charleville (1742–1817), Tochter eines jüdischen Arztes aus Halle.
Henriette wuchs in Berlin im bürgerlichen Milieu wohlhabender jüdischer Familien auf. Sie genoss frühe Bildung, vor allem in verschiedenen Sprachen. Sie konnte Hebräisch, Griechisch, Latein, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch.
Schon als Kind fällt Henriette durch ihre außergewöhnliche Schönheit auf und ist früh daran gewöhnt, im Mittelpunkt geselliger Zusammenkünfte zu stehen. Im Alter von zwölf Jahren wurde sie mit dem Arzt und Schriftsteller Marcus Herz (1747-1803) verlobt und zwei Jahre später verheiratet. Nach der Hochzeit zog sie zu ihrem Ehemann in eine herrschaftliche Wohnung in der Spandauer Straße. Marcus Herz hielt in seinem Hause Vorlesungen über Philosophie und führte Gesprächskreise zu wissenschaftlichen und philosophischen Themen. Henriette, deren Schwerpunkt eher das Literarische war, sammelte schnell in einem Nebenzimmer zuerst ein Frauenkränzchen, bald aber einen Kreis junger literaturinteressierter Männer und Frauen um sich. So entstand ein der bekanntesten literarischen Salons Berlins. Sie nannte ihre Gruppe einen „Tugendbund zur Pflege der Freundschaft“. Aus diesen beiden Zirkeln, des Mannes und der Frau, entwickelte sich der führende Berliner Salon, ein sogenannter Doppelsalon. Es verkehrten dort Politiker, Wissenschaftler, bildende Künstler, Literaten und Philosophen.
Unterschiedliche literarische Strömungen, Epochen und Gesellschaftskreise fanden hier zusammen und es war Henriette Herz’ Verdienst, Kontakte und Freundschaften auch zwischen vielen deutschen und französischen Gelehrten, Künstlern und Wissenschaftlern hergestellt zu haben. Marcus Herz starb 1803. Sein Tod und die napoleonische Okkupation Berlins 1806 beeinflussten stark das Leben von Henriette Herz. Sie blieb allein und relativ verarmt, was ihre Karriere als Salonfrau beendete. Einen Heiratsantrag von Alexander von Dohna schlug sie aus, um die Unabhängigkeit, die sie erworben hat, nicht zu verlieren. Sie lebte in bescheidenen Verhältnissen und widmete sich wohltätigen Aufgaben, indem sie junge mittellose Mädchen förderte und unterrichtete. Später eröffnete sie eine Schule für junge Frauen. Sie schränkte ihre Geselligkeiten stark ein und schloss sich dem Kreis um Rahel Varnhagen, an. Nach dem Tod ihrer Mutter konvertierte Henriette zum protestantischen Glauben. Sie war schon um 50, als sie eine Reise nach Italien unternahm, um in Rom in der deutschen Künstlerkolonie um Overbeck und die Brüder Veit zwei Jahre zu verbringen. Auf Betreiben von Alexander von Humboldt gewährte der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der als junger Mann in ihrem Salon verkehrt hatte, Henriette Herz eine Rente. Sie starb 1847 im Alter von 83 Jahren in Berlin. Beigesetzt wurde sie auf dem Friedhof II der Jerusalems- und Neuen Kirche vor dem Halleschen Tor.
Ein Platz in der Nähe des Hackeschen Markts und ein Park neben dem Potsdamer Platz sind Henriette Herz gewidmet.
09. Lotte Hahm (1890-1967), LGBT Aktivistin, Performerin, Autorin
Charlotte „Lotte“ Hahm war eine der wichtigsten Aktivistinnen der homosexuellen Subkultur in Deutschland, in der Weimarer Republik, während des Krieges und danach in der Bundesrepublik. Sie war auch Autorin, Performerin und Kabarettistin.
Geboren und aufgewachsen in Dresden, machte sie dort eine Ausbildung im Büro. Seit 1920 arbeitete sie selbstständig als Inhaberin einer Versandbuchhandlung.
In der Weimarer Republik mit ihren neuen, demokratischen Freiheiten, wurden die lesbischen Vereine öffentlich. Etwa zu dieser Zeit kam Hahm nach Berlin, wo sie gemeinsam mit Käthe Reinhardt die größten lesbischen Klubs der Zeit mit bis zu 2000 Mitgliedern* und 500 Teilnehmerinnen* sowie verschiedene andere Lokale gründete. Es gab zu dieser Zeit circa 50 Lesbische Klubs in Berlin.
Die Damenklubs „Violetta“ und „Monbijou“ (beides Codewörter für eine lesbische Frau) waren die wichtigsten dabei – und jeder dieser Vereine hatte seine eigene Vereinspublikation. Hahm verfasste Artikel, veranstaltete Vorträge, Lesungen und Ausflüge und unterstützte die Gründung lesbischer Netzwerke in anderen Städten. Sie war Chefredakteurin der Zeitschrift „Die Freundin. Das ideale Freundschaftsblatt“. Zwischen 1926 und 1932 leitete sie mehrere Vereinigungen für lesbische Frauen, die teilweise dem Bund für Menschenrecht (BfM) angeschlossen waren. Es war für Frauen der 1920er klar, dass die lesbischen Frauen mit den homosexuellen Männern und Transvestiten zusammenarbeiten müssen. Hahm eröffnete Bars für Homosexuelle und gründete die Transvestitenvereinigung „D’Eon“ mit.
Ihre Markenzeichen waren Kurzhaarschnitt, Hemd und Krawatte. Da sie immer Männer-kleidung trug, war sie vermutlich Inhaberin eines so genannten Transvestitenscheins. Es war ein Dokument, eingeführt 1909 und bis 1950er Jahre nutzbar, das dem jeweiligen Besitzer ohne Furcht vor behördlicher oder polizeilicher Verfolgung gestattete, in der Öffentlichkeit gegengeschlechtliche Kleidung zu tragen.
Nach der Machtübernahme von Nazis 1933 wurden alle lesbischen Lokale geschlossen, Zeitschriften verboten, offene Veranstaltungen verhindert. Trotzdem hielt Hahm weiterhin die lesbische Subkultur aufrecht. Sie nannte tarnend ihren Damenklub „Violetta“ in „Sportclub Sonne“ um. Sie wurde denunziert und hielt sich dann in Hiddensee an, wo sie eine Damenpension führte. Sie wurde beobachtet und 1935-1937 im KZ Moringen interniert. Nach der Freilassung wurde sie 1938 wieder inhaftiert und diesmal zu Zwangsarbeit verurteilt.
Unmittelbar nach Kriegsende begann Hahm 1945 wieder gemeinsam mit Käthe Reinhardt aktiv zu werden. Schon 1945 gründeten sie ein Lokal am Spittelmarkt, das erste Lesben-Lokal Ost-Berlins. 1947 zogen Hahm und Reinhardt in den westlichen Teil Berlins und eröffneten dort in der Oranienstr. 162 einen neuen Klub, der unter dem Namen „Max und Moritz“, das bis in die 60er Jahre unter lesbischen Frauen sehr populär war. Vergessen und totgeschwiegen starb sie vermutlich 1967. Erst Historikerinnen wie Claudia Schoppmann holten diese legendäre lesbische Aktivistin in die Erinnerung zurück.
Heute wird Hahm für ihre aktivistische Tätigkeit als eine der wichtigsten Aktivistinnen der homosexuellen Subkultur, insbesondere in Berlin, und eine bedeutsame Vorkämpferin* für die Organisierung homosexueller Frauen und Transvestiten während der Weimarer Republik gewürdigt.
10. Marie Juchacz (1879-1956), Sozialaktivistin, Politikerin
Geboren wurde sie in Landsberg an der Warthe (heute Gorzów Wielkopolski), starb in Düsseldorf. Sie war eine deutsche Sozialreformerin, Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin.
Marie Juchacz war die erste Frau, die in Deutschland, zum Beginn der Weimarer Republik, auf dem Rednerpult der Weimarer Nationalversammlung stand. Es war Mittwoch 19. Februar 1919. Der Erste Weltkrieg war gerade vor drei Monaten zum Ende. Als eine von 37 Frauen wurde Juchacz 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt und gehörte als einzige Frau dem „Ausschuß zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs“ der Nationalversammlung an. Von den Reichstagswahlen 1920 bis 1933 war sie Mitglied des Reichstages.
Marie war Tochter des Zimmermanns Theodor Gohlke und seiner Frau Henriette. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete sie ab 1893 als Dienstmädchen und als Fabrikarbeiterin. 1896-1898 war sie in der Krankenpflege tätig. Sie absolvierte eine Lehre und arbeitete als Schneiderin bis 1913. Sie heiratete den Schneidermeister Bernhard Juchacz und hatte mit ihm zwei Kinder. Die Ehe scheiterte und wurde geschieden – ein damals ungewöhnlicher Vorgang. 1906 war Juchacz mit den Kindern nach Berlin gezogen. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie in der Heimarbeitszentrale und war Mitglied der sogenannten Lebensmittelkommission.
Gemeinsam mit anderen Frauen sorgte sie für die Einrichtung von Suppenküchen, Nähstuben und Heimarbeitsplätzen. Zudem engagierte sie sich in der Unterstützung von Kriegswitwen und -waisen. Die Not der Betroffenen ließ sie nicht mehr los. Auch als Abgeordnete widmete sich Marie Juchacz hauptsächlich der Sozialpolitik. Sie trat unter anderem für einen besseren Mütter- und Wöchnerinnenschutz, für Jugendhilfe und eine Änderung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder ein. In Berlin trat sie 1908 der SPD bei. Dort wurde ihr ungeahntes Talent entdeckt: Sie war eine gefragte Versammlungsrednerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Parteiebenen als Frauensekretärin und organisierte die Textilarbeiterinnen. 1917 übernahm sie die Redaktion der Frauenzeitung „Die Gleichheit“. Am 13. Dezember 1919 war sie eine der Gründerinnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und bis 1933 ihre erste Vorsitzende. Von 1921 bis 1931 gehörte sie auch dem Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge an.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann ihre Fluchtgeschichte, über Saargebiet, Elsass, Marseille und Martinique nach New York, wo sie acht Jahre lebte. Dort gründete sie 1945 die „Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus“, die nach Ende des Krieges mit Paketsendungen Unterstützung im zerstörten Deutschland leistete. 1949 kehrte sie zurück nach Deutschland und bis zu ihrem Tod war sie die Ehrenvorsitzende der AWO.
Ehrungen: Zweimal (1969 und 2003) wurde sie mit einer Briefmarke geehrt. Es gibt eine Plakette und einen Preis, die ihren Namen tragen. Am 18. August 2017 wurde ihr Denkmal am Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg eingeweiht. In der Nähe befand sich bis 1933 die Zentrale der Arbeiterwohlfahrt. Ein Altenheim in Neukölln trägt den Namen „Marie Juchacz“. Seit 2020 zeigt das Mitte Museum die Ausstellung „Marie Juchacz – Die erste Frau am Rednerpult“. Es gibt auch ein Musical „Meine Herren und Damen: Marie!“
11. Teresa Nawrot (geb. 1948), Polnische Schauspielerin, Regisseurin
1968 bis 1971 studierte Teresa Nawrot in der Warschauer Schauspielschule und schon 1969 bekam sie ihre erste Hauptrolle. 1971 folgte ihr erstes Engagement am “Teatr Laboratorium” von Jerzy Grotowski, Guru des polnischen Experimental-Theaters. Sie wurde seine Assistentin, nahm an seinen paratheatralischen Projekten teil. Als die engste Mitarbeiterin des Mannes, der in den 1970ern das Welttheater revolutionisierte, dozierte sie überall in der Welt über seine Schauspielkunst und seine Methode. Bei Grotowski blieb sie bis 1984.
1989 entstand ihre Schauspielschule (Schauspielschule für Theater und Film) Reduta. Auf Deutsch bedeutet das Wort ein kleines Festungswerk — Redoute. So hieß auch vor dem Krieg ein berühmtes polnisches Avantgarde-Theater des Schauspielers Juliusz Osterwa. Reduta von Teresa Nawrot zog ein paarmal um, immer in Kreuzberg.
Am Anfang lehrte Nawrot nach den Trainingsmethoden Grotowskis und vertrat die Schauspieltechnik und Philosophie des „Teatr Laboratorium“. Im Laufe der Jahre ist jedoch aus der Grotowski-Technik die Nawrot-Technik entstanden, ihre individuelle Lernmethode, eine Weiterführung der ehemals berühmten Methode von Grotowski. Die Rechnung geht auf. Die Reduta-Absolvent:innen gingen nach der dreijährigen Ausbildung auf die professionelle Bühnen. Das änderte auch die Theaterlandschaft Berlins. Die war in den 80ern des 20. Jahrhunderts nicht besonders interessant. Jetzt blüht sie auf. Es ist nicht nur Frank Castorf und René Pollesch zu verdanken, sondern auch Teresa Nawrot.
Teresa Nawrot ist jetzt über 70, schön, klug und stark. Sie strahlt Lebensenergie aus, die viele ansteckt. Die Schule bring Profit, hat auch schwierige Zeiten überstanden, Lockdowns während der Pandemie mitberechnet. Die Schüler stehen Schlange, die Absolventen sind vergriffen, sie gastieren in Deutschland. Sie sind berühmt. Sie ist berühmt.
2023 feiert Teresa Nawrots Schule ihr 40-jähriges Bestehen.
12. Charlotte Oppermann (1904-1984), eine Kreuzbergerin
Geboren 22. August 1904, gestorben am 7. September 1984. Sie wurde auf dem Alten Luisenstadt-Friedhof in der Bergmannstraße begraben, Parzelle Nr.: Abt. 8-2-49/50. Hat einen sehr interessanten Grabmal, eine gesockelte Statuette, ein Werk von ihrem Sohn, Ernst Leonhardt, Berliner Künstler, der sich zur Tradition des deutschen Expressionismus bekennt, Bildhauer, Maler und Graphiker, geboren 1935. Er hat die Grabskulptur von Charlotte unterschrieben: EL84.
Leonhardt entwarf unter anderen den seit 1991 von der Boulevardzeitung B.Z. vergebenen Kulturpreis für herausragende Künstler („Berliner Bär“). Peter Raue, Rechtanwalt und Kunstliebhaber, selber der Preisträger des B.Z.-Preises, schrieb, dass die Preis-Figur durch ihre Kraft und Grazie einer der schönsten Preise sei, die weltweit vergeben werden. Leonhards Werke, schreibt Raue bei dieser Gelegenheit, „sind nie monumental, immer sehr nah am Menschen und deshalb menschlich“. Und das muss man auch über die Skulptur von Charlotte Oppermann sagen, einer Frau, die jahrelang in Kreuzberg lebte, eine Kreuzberger Persönlichkeit war, eine die immer, wie die Mutter von Mummin-Troll, eine Tasche bei sich trug und genauso wurde sie von Leonhardt verewigt.
Man kann sich natürlich fragen – weshalb ist sie als eine der 12 Apostolinnen, 12 Kreuzberger weiblichen Persönlichkeiten zu suchen und zu finden? Die Antwort ist – gerade deshalb, weil sie so menschlich, so nah am normalen Leben ist. In der Quest for Women* sind verschiedene Frauen ausgesucht worden – junge und ältere, Künstlerinnen und Aktivistinnen, weiße und of Color, Jüdinnen und Deutsche, zwei, die leben (Christine Ziegler, eine deutsche Hausbesetzerin und Teresa Nawrot, eine polnische Theaterfrau) und zehn, die gestorben sind. Solche, die in die Annalen eingegangen sind (oder gerade hingehen). Aber das wahre Leben machen auch kleine Menschen und nicht nur die Berühmtheiten. Die üblichen Kanon-Listen, wenn sie von den Männern erstellt sind, bestehen zu 90% von Männern, Königen, Päpsten und Generäle, Künstler, Erfinder und Liebhaber und gar Hippies. Erst seit nicht so langer Zeit wurden auch weibliche Listen dieser Art hergestellt. In diesem Spiel sollten Kreuzberger:innen dargestellt werden. Charlotte Oppermann war eine von ihnen.
Ein Projekt von Ewa Maria Slaska (Texte) und Anna Krenz (Grafik).
Ein Projekt von Ambasada Polek e.V.
In Zusammenarbeit mit:
Polkopedia www.polkopedia.org
Dziewuchy Berlin www.dziewuchyberlin.org;
Regenbogenfabrik www.regenbogenfabrik.de;
Schauspielschule für Theater und Film REDUTA www.reduta-berlin.de
International Council for Polish Women+ www.polonijnaradakobiet.org
Projekt gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms (Demokratie leben! (www.demokratie-leben.de)